Die Menschen im alten Israel haben auch erlebt, dass die Begegnung mit Fremdem und Fremden herausfordernd sein kann. Nicht immer führt sie zu offenen Armen. Manchmal löst sie Verteidigungshaltungen oder Abwehrreaktionen aus, gelegentlich sogar Gewalt. Fremde werden bedrängt. So menschlich allzu menschlich ging es wohl schon immer zu, andernfalls wäre dieses Gebot gar nicht in die Bibel aufgenommen worden.

Wurde es aber. Und zwar deshalb, damit wir unsere Skepsis Fremden(m) gegenüber und die mit ihr einhergehenden Reflexe durchbrechen und einen anderen Umgang einüben; ein alternatives Verhaltensmuster ausprobieren. Das könnte so aussehen: Fremdes an sich heranlassen, Fremden Raum schaffen, in die Begegnung gehen, das Miteinander suchen.

Ein Schlüssel dafür ist die Erinnerung an die eigene Erfahrung. Ein Vers weiter wird Israel daran erinnert, dass es selbst mal zu den Fremden gehörte. Sklaven waren sie in Ägypten. Heimatlos, am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie.

Manche werden zustimmend nicken, weil sie diese Erfahrung kennen. Für Herkunftsdeutsche wie mich gehören solche Erlebnisse nicht zur Biografie. Aber wir können versuchen, uns in die Situation Fremder hineinzuversetzen.

Als meine Eltern vor einigen Jahren Kontakt zu Geflüchteten aus der Türkei bekamen und ihnen Deutschunterricht gaben, sagte mein Vater irgendwann zu meiner Mutter: Wie wären wir wohl damit umgegangen, wenn wir mit kleinen Kindern in ein anderes Land hätten fliehen und alles zurücklassen müssen? Diese Frage, dieses Mitschwingen mit den Erfahrungen anderer hat Offenheit für „die Fremden“ und Nähe zu ihnen erzeugt. Bei seiner Beerdigung waren viele aus der türkischen Gruppe anwesend und erwiesen ihm als Muslime auf einer christlichen Beerdigung die letzte Ehre. Das war mehr als nur eine Geste. Mich hat das sehr angerührt und mich bestätigt: sich empfänglich für die Erfahrung anderer machen, öffnet Herzen und erzeugt Nähe. Und wer sich einmal auf echte Begegnungen eingelassen hat, wird den Fremden nicht mehr bedrängen.

Das ist noch keine Lösung für die vielen Fragen rund um das Thema Migration, das uns in Deutschland gegenwärtig bewegt. Und ja, man muss nicht alle und alles umarmen. Aber Gott zeigt uns hier einen Weg für einen gerechten Umgang mit den Fremden, die unter uns sind. Wenn wir ihn gehen, werden wir nicht nur Überraschendes erleben, sondern auch ihm selbst begegnen. Denn: „Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen,“ sagt Jesus.

Oliver Pilnei

Theologische Hochschule Elstal

Für die Gedanken zum Monatsspruch bedanken wir uns wieder bei der Theologischen Hochschule Elstal für diesen besonderen Service.

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